Einzelhändler
Niemand weiß, ob Fähigkeiten und Eigenschaften genetisch durch Erziehung oder das praktische Erleben bedingt sind. Vielleicht war von alledem ein wenig dafür ursächlich, dass ich schon als kleiner Knirps gerne meine Mutter in dem winzigen Kaufhaus WÖHRL an der Rother Hauptstraße besucht habe. Wenige Jahre nach dem Krieg gab es dort nicht nur fertige Bekleidung, sondern auch all die vielen Zutaten von Knöpfen, Fäden, Reißverschlüssen und Stoffen, die es mir als Kind angetan hatten. Besonders fasziniert war ich von einer Maschine, mit der man für die Kunden, aus dem Saum mitgebrachter und getragener Kleidungsstücke, passgenaue Ersatzknöpfe fertigen konnte.
Ob meine Mutter viel Vertrauen in meine handwerklichen Fähigkeiten oder nur keine Zeit für Vorsichtsmaßnahmen hatte, vermag ich bis heute nicht zu beantworten, aber mich ließ man schon als 5-jährigen ungestört an der Nähmaschine aus alten Stoffresten Dinge schneidern, die ich dann, statt Süßigkeiten, in meinem Kaufladen an Freunde meiner Eltern verkaufte. Keine Frage: Ich wollte mich nicht nur mit Mode beschäftigen! Ich wollte vor allen Dingen ein erfolgreicher Modeeinzelhändler werden. Da war es klar, dass ich jede freie Minute nutzte, um „bezahlte“ Tätigkeiten im Geschäft meiner Eltern zu verrichten. Das Falten von Kartons war dabei die Pflicht, das Verkaufen von Socken die Kür. Die Kunden lachten und freuten sich über die Aktivitäten des kleinen 10-jährigen „Rudolfs“. An Ausbeutung oder verbotene Kinderarbeit, die heute sofort zu einem lauten Aufschrei in den Medien führen würden, dachte niemand. Für mich war das auf jeden Fall toll und 100-mal schöner, als Fußball zu spielen oder anderen typisch kindlichen Beschäftigungen nachzugehen. Die Arbeit im Geschäft meiner Eltern in der Freizeit und während den Ferien war ganz selbstverständlich und als 16-jähriger verfügte ich bereits über ein recht komplexes Fachwissen.
1964 kam ich dann in die Schule nach London und verbrachte jede freie Minute in den dortigen Boutiquen. „Dedicated, follower of Fashion“ könnte man in Anlehnung an den Song der Kinks sagen und bei einem dieser Streifzüge lernte ich John Stephen, den Initiator der Carnaby Street, kennen. Ein Jahr später wurde ich (siehe meinem Lebenslauf) Lehrling bei WÖHRL, aber besessen von dem Gedanken es John Stephen gleich zu tun, gründeten mein Bruder und ich im November 1966 (gerade rechtzeitig zu meinem 18. Geburtstag) die Carnaby Shops, Boutiquen im Original English Style. Wir hatten ein paar 1.000 Mark gespart und diese mussten reichen, um auf etwa 100 m² aus Holzschindeln, gebrauchten Backsteinen und Schrott eine Boutique zu zimmern. Für diesen Teil war ich zuständig, während mein Bruder Gerhard auf der Suche nach avantgardistischen Modemachern war, die nicht nur coole Produkte hatten, sondern auch ein ausreichendes Zahlungsziel einräumten. Dabei lernten wir Leute wie die Gebrüder Holy (BOSS), Strehle (STRENESSE) usw. kennen. Wir kalkulierten mit einem Jahresumsatz von DM 500.000 (ca. € 250.000), was heute € 1 Mio. Kaufkraft entspricht. Unser Vater sah diesem Treiben mit einem lachenden und einem weinenden Auge zu und meinte: „Ihr braucht mindestens das Doppelte, sonst seid ihr in kürzester Zeit pleite!“.
Der Laden war total improvisiert! Statt einer klassischen Leuchtschrift sägten wir aus Sperrholzplatten den Schriftzug „Carnaby Shops“ heraus und hinterleuchteten diesen mit zwei Leuchtstoffröhren. Als Krawattenständer diente ein altes Wagenrad und selbst die Lampen bauten wir aus Einzelteilen zusammen, weil es nichts gab, was schlicht und billig genug war.
Eine Band spielte ehrenamtlich vor dem Landen, mit zwei Oldtimern fuhren wir, angezogen in wilden Klamotten, durch die Stadt, und der Eröffnungsumsatz mit DM 3.000 geplant, erreichte sagenhafte DM 13.000. Carnabys wurde zum Modeeldorado in Nürnberg, später in Bayern und am Ende war es wohl der erfolgreichste „Young Fashion Store“ in Deutschland. Den von unserem Vater als nötig erachteten Umsatz von DM 500.000 erreichten wir tatsächlich bereits im ersten Jahr. Im zweiten Jahr verdoppelte er sich erneut und so ging es steil aufwärts bis schließlich im 25. Jahr der ständig erweiterte „Carnabys“ fast € 15 Mio. erreichte, was bei den heutigen Kaufpreisen für Mode wohl € 30 Mio. Umsatz entspräche. Es gab in Deutschland keinen profitableren und keinen ausgeflippteren Laden als unseren!
1970 kauften wir unseren Eltern die fünf Modehäuser ab und führten deren bewährte traditionelle Linie nicht nur fort, sondern peppten sie mit den Erfahrungen aus den Carnaby Shops auf. So wurde am Ende in Nürnberg das immer größer werdende Stammhaus mit 19.000 m² mit seiner gigantischen Young Fashion Abteilung (U1) zum größten Wettbewerber von Carnabys und so beendete WÖHRL nach meinem Ausscheiden das Kapitel „Carnabys“.
Was mich Zeit meines Lebens reizte, war zu beweisen, dass man hochwertige Mode trotz guter Beratung und motivierter Mitarbeiter preiswert an die Frau/den Mann bringen kann. Es ging mir nie darum, schnell viel zu verdienen, sondern darum, zufriedene Stammkunden zu gewinnen, die voller Vertrauen bei WÖHRL einkaufen. Mit Markenprogrammen, die auch für den kleineren Geldbeutel erschwinglich waren, wuchs das Unternehmen auf 42 Filialen und erreichte € 400 Mio. Umsatz.
Für mich standen immer die Menschen im Vordergrund, geboren aus der Überzeugung, dass nur mit wirklich zufriedenen Kunden, gut bezahlten und hochqualifizierten Mitarbeitern langfristige Erfolge möglich seien. So gründeten wir die WÖHRL Akademie; waren der größte Ausbildungsbetrieb des Handels in Bayern und legten uns (lange bevor das zum allgemeinen Trend wurde) strenge Auflagen hinsichtlich des Umweltschutzes auf. Außerdem organisierten wir das Unternehmen in einer Form, die es trotz toller Atmosphäre, trotz gut bezahlter Mitarbeiter ermöglichte, das Kostenniveau auf Discounter Ebene zu halten.
Irgendwann wurde mir aber klar, dass man wegen der ständigen Innovationen, ein solches Unternehmen nur eine bestimmte Zeit führen sollte.
1965 begann ich meine aktive berufliche Tätigkeit. 30 Jahre, so dachte ich, wären deshalb genug! Doch da lag gerade die Wiedervereinigung mit all ihren Chancen hinter uns und so habe ich noch ein paar Jahre angehängt.
Im Jahr 2002 war es dann aber soweit. Ich trat die alleinige operative Führung an einen Vorstand ab und beschränkte mich auf das Mandat des Aufsichtsratsvorsitzenden. Es dauerte nicht lange, bis ich mich in dieser Rolle nicht mehr wohlfühlte. Konflikte im Gesellschafterkreis über die Ausrichtung des Unternehmens, unterschiedliche Beurteilung des Vorstandes und die Zukunftspolitik veranlassten mich, Schritt für Schritt, dem Unternehmen den Rücken zu zukehren. Schließlich habe ich im Jahre 2008 alle Anteile an meinen Bruder verkauft. Nicht im Zorn, sondern aus der Überzeugung heraus, das Richtige für das Unternehmen und die Mitarbeiter zu tun.
Nach meinem Ausscheiden ging es bei WÖHRL zunächst ziemlich turbulent zu und meine Nachfolger mussten erkennen, dass zwischen guten Ideen und deren Umsetzung ein himmelweiter Unterschied besteht. Doch es hat sich nicht zum Guten gewendet. Die Fusion mit SinnLeffers um WÖHRL eine deutlich bessere Position in ganz Deutschland zu geben erwies sich als katastrophaler Fehler. WÖHRL ging unter den Schutzschirm und wurde von Christian Greiner übernommen.
Mein Sohn, Christian Greiner, hat scheinbar das Mode- und Unternehmergen von mir geerbt, wobei er mir in Sachen Mode sogar deutlich überlegen ist. Im Rahmen der Trennung von WÖHRL übernahm ich deswegen ein Aktienpaket des schönsten Kaufhauses in ganz Deutschland, LUDWIG BECK am Münchner Rathauseck.
Dieser traditionsreichen, fast 150 Jahre alten Firma ging es damals nicht wirklich gut. Man brauchte dringend Geld und unternehmerisches Engagement. Beides investierten wir. Mein Sohn Christian wurde Vorstand, ich übernahm einen Platz im Aufsichtsrat und heute sind wir mit 51,3 % in der Lage, dieses Haus mit allen Impulsen zu versehen, die es braucht, um vielleicht weitere 150 Jahre am Markt zu bestehen. Die Mitarbeiter werden hofiert und auch die anderen ca. 500 Aktionäre können sich über steigende Dividenden freuen.
Ich selbst bin so etwas wie ein Modemuffel geworden. Nach dem tragischen Unfalltod meines jüngsten Sohnes Emanuel im Jahre 2001 habe ich schwarz getragen und 20 Jahre lang als meine Standardfarbe beibehalten. Das hatte mit Sentimentalität, aber auch mit der praktischen Erkenntnis zu tun, dass in Anbetracht meiner zunehmenden körperlichen Fülle, keine Farbe mehr schmeichelt, als eben schwarz. Das alles hindert mich aber nicht daran, noch immer mit großer Begeisterung durch Modehäuser zu schlendern. Gekauft habe und werde ich aber immer nur bei WÖHRL oder BECK. Wenn ich wirklich einmal wo anders zugegriffen habe, dann nur, um das erworbene Produkt meinen Einkäufern mit der Frage vorzuhalten: „Warum haben wir so etwas nicht?“
Ich bin kein Modevisionär, aber scheinbar besitze ich ein ausgeprägtes Gefühl, für das, was meinen Kunden gefällt, was sie sich leisten können und das ist gut so!